Das
Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom heutigen Tag die
§§ 4a bis 4d des Bundeselterngeld- und
Elternzeitgesetzes, die das Betreuungsgeld regeln, für mit dem
Grundgesetz unvereinbar und daher nichtig erklärt.
Aus der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts
(Pressemitteilung Nr. 57/2015 vom 21. Juli 2015):
Keine
Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Betreuungsgeld
Pressemitteilung Nr. 57/2015 vom 21. Juli 2015
Urteil vom 21. Juli 2015
1 BvF 2/13
“Dem Bundesgesetzgeber fehlt die Gesetzgebungskompetenz
für das Betreuungsgeld. Dies hat der Erste Senat des
Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem Urteil
entschieden. Die §§ 4a bis 4d des Bundeselterngeld-
und Elternzeitgesetzes, die einen Anspruch auf Betreuungsgeld
begründen, sind daher nichtig. Sie können zwar der
öffentlichen Fürsorge nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG
zugeordnet werden, auf die sich die konkurrierende Gesetzgebung des
Bundes erstreckt. Die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG
für die Ausübung dieser Kompetenz durch den Bund
liegen jedoch nicht vor. Das Urteil ist einstimmig ergangen.
Sachverhalt:
Antragsteller im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle ist der Senat
der Freien und Hansestadt Hamburg. Er wendet sich gegen die mit dem
Betreuungsgeldgesetz vom 15. Februar 2013 eingefügten
§§ 4a bis 4d des Bundeselterngeld- und
Elternzeitgesetzes. Diese Regelungen sehen im Wesentlichen vor, dass
Eltern in der Zeit vom 15. Lebensmonat bis zum 36. Lebensmonat ihres
Kindes einkommensunabhängig Betreuungsgeld in Höhe
von zunächst 100 € und mittlerweile 150 €
pro Monat beziehen können, sofern für das Kind weder
eine öffentlich geförderte Tageseinrichtung noch
Kindertagespflege in Anspruch genommen werden.
Wesentliche
Erwägungen des Senats:
1. Die Regelungen zum Betreuungsgeld sind dem Gebiet der
öffentlichen Fürsorge im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr.
7 GG zuzuordnen. Ein anderer Kompetenztitel kommt nicht in Betracht.
Der Begriff „öffentliche
Fürsorge“ ist nicht eng auszulegen. Er setzt voraus,
dass eine besondere Situation zumindest potentieller
Bedürftigkeit besteht, auf die der Gesetzgeber reagiert. Dabei
genügt es, wenn eine – sei es auch nur typisierend
bezeichnete und nicht notwendig akute – Bedarfslage im Sinne
einer mit besonderen Belastungen einhergehenden Lebenssituation
besteht, auf deren Beseitigung oder Minderung das Gesetz zielt. Dies
ist beim Betreuungsgeld der Fall.
2. Die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG sind jedoch nicht
erfüllt. Nach dieser Vorschrift hat der Bund – u. a.
im Bereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG – das
Gesetzgebungsrecht nur, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger
Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der
Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine
bundesgesetzliche Regelung erforderlich machen.
a) Die Regelungen sind nicht zur Herstellung gleichwertiger
Lebensverhältnisse im Bundesgebiet erforderlich.
aa) Dies wäre dann der Fall, wenn sich die
Lebensverhältnisse in den Ländern in erheblicher, das
bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender
Weise auseinander entwickelt hätten oder sich eine derartige
Entwicklung konkret abzeichnete. Das bloße Ziel,
bundeseinheitliche Regelungen in Kraft zu setzen oder eine allgemeine
Verbesserung der Lebensverhältnisse zu erreichen,
genügt hierfür nicht.
bb) Diesen Anforderungen genügen die Bestimmungen
über ein bundeseinheitliches Betreuungsgeld nicht.
Insbesondere bilden die in der Begründung des Gesetzentwurfs
niedergelegten Erwägungen insoweit keine tragfähige
Grundlage.
Zwar gibt es gegenwärtig nur in Bayern, Sachsen und
Thüringen ähnliche staatliche Leistungen. Dies
führt jedoch nicht zu einer erheblichen Schlechterstellung von
Eltern in jenen Ländern, die solche Leistungen nicht
gewähren. Ohnehin könnte das Bundesbetreuungsgeld ein
bundesweit gleichwertiges Förderungsniveau von Familien mit
Kleinkindern schon deshalb nicht herbeiführen, weil keine
Anrechnungsvorschrift bezüglich bereits bestehender
Landesregelungen existiert, so dass Eltern neben dem
Bundesbetreuungsgeld in den drei genannten Ländern weiterhin
zusätzlich das Landeserziehungsgeld beziehen können.
Die Erforderlichkeit des Betreuungsgeldes zur Herstellung
gleichwertiger Lebensverhältnisse ergibt sich auch nicht
daraus, dass der Ausbau der Kindertagesbetreuung von Bund und
Ländern seit Jahren gefördert wird und es darum einer
Alternative zur Inanspruchnahme von Betreuung durch Dritte
bedürfte. Das Merkmal der Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse zielt auf den Ausgleich von Nachteilen
für Einwohner einzelner Länder zur Vermeidung daraus
resultierender Gefährdungen des bundesstaatlichen
Sozialgefüges, nicht aber auf den Ausgleich sonstiger
Ungleichheiten.
Aus den Grundrechten ergibt sich – ungeachtet der Frage, ob
dies überhaupt Bedeutung hinsichtlich der Anforderungen des
Art. 72 Abs. 2 GG entfalten könnte – nichts anderes.
Konkrete Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen lassen
sich aus dem verfassungsrechtlichen Gebot des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG,
die Pflege- und Erziehungsleistung der Eltern zu unterstützen,
nicht herleiten. Auch der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebiet
weder dem Bundes- noch dem Landesgesetzgeber, ein Betreuungsgeld zu
gewähren, um eine vermeintliche Benachteiligung
gegenüber jenen Eltern zu vermeiden, die einen
öffentlich geförderten Betreuungsplatz in Anspruch
nehmen. Das Angebot öffentlich geförderter
Kinderbetreuung steht allen Eltern offen. Nehmen Eltern es nicht in
Anspruch, verzichten sie freiwillig, ohne dass dies eine
verfassungsrechtliche Kompensationspflicht auslöste.
Dass bis heute zwischen den Ländern erhebliche Unterschiede
hinsichtlich der Verfügbarkeit öffentlicher und
privater Angebote im Bereich der frühkindlichen Betreuung
bestehen, vermag die Erforderlichkeit des Betreuungsgeldes zur
Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ebenfalls nicht
zu begründen. Denn das Betreuungsgeld ist nicht als
Ersatzleistung für den Fall ausgestaltet, dass ein Kleinkind
keinen Platz in einer Betreuungseinrichtung erhält. Vielmehr
genügt die Nichtinanspruchnahme eines Platzes auch dann, wenn
ein solcher vorhanden ist. Vor allem aber besteht ein einklagbarer
Leistungsanspruch für den Zugang zu öffentlich
geförderten Betreuungseinrichtungen, der nicht unter
Kapazitätsvorbehalt gestellt ist. Daher ist das Betreuungsgeld
von vornherein nicht auf die Schließung einer
Verfügbarkeitslücke gerichtet.
Schließlich vermag auch der gesellschaftspolitische Wunsch,
die Wahlfreiheit zwischen Kinderbetreuung innerhalb der Familie oder
aber in einer Betreuungseinrichtung zu verbessern, für sich
genommen nicht die Erforderlichkeit einer Bundesgesetzgebung im Sinne
des Art. 72 Abs. 2 GG zu begründen. Auf die Frage, ob das
Betreuungsgeld überhaupt geeignet ist, dieses Ziel zu
fördern, kommt es daher nicht an.
b) Das Betreuungsgeld ist nicht zur Wahrung der Rechts- oder
Wirtschaftseinheit erforderlich.
aa) Der Annahme, die angegriffene Bundesregelung sei zur Wahrung der
Rechtseinheit erforderlich, steht bereits entgegen, dass sie
zusätzliche vergleichbare Leistungen in einzelnen
Ländern bestehen lässt, so dass eine
Rechtsvereinheitlichung ohnehin nicht herbeigeführt wird. Die
bundesgesetzliche Bereitstellung von Betreuungsgeld ist auch nicht zur
Wahrung der Wirtschaftseinheit erforderlich, denn unterschiedliche
Landesregelungen oder das Untätigbleiben der Länder
haben keine erkennbaren erheblichen Nachteile für die
Gesamtwirtschaft mit sich gebracht.
bb) Die Erwägungen aus dem Gesetzgebungsverfahren zum
Kinderförderungsgesetz sind auf das Betreuungsgeld nicht
übertragbar. Während dort auf den Zusammenhang
zwischen Kinderbetreuung und Beteiligung von Eltern am Arbeitsleben
abgestellt und damit an die Bedeutung der Regelungen als Arbeitsmarkt-
und Wirtschaftsfaktor angeknüpft wurde, fördert das
hier zu beurteilende Betreuungsgeld die Erwerbsbeteiligung von Eltern
nicht. Insbesondere ist es weder dazu bestimmt noch ist es angesichts
seiner Höhe dazu geeignet, eine private, nicht
öffentlich geförderte Kinderbetreuung zu finanzieren.
cc) Auch die Erwägungen des Gesetzentwurfs zur
Einführung des Elterngeldes, in dem das bundesstaatliche
Regelungsinteresse vor allem auf die Arbeitsmarkteffekte
elternschaftsbedingter Auszeiten gestützt wurde, sind nicht
auf das Betreuungsgeld übertragbar. Das Elterngeld stellt mit
einer Höhe von 67 % des vorherigen Einkommens einen
erheblichen Faktor für die Frage einer Unterbrechung der
Erwerbstätigkeit dar. Dass das Betreuungsgeld mit einer
monatlichen Zahlung von 150 € geeignet wäre, einen
auch nur annähernd ähnlichen Unterbrechungseffekt zu
entfalten, ist nicht erkennbar.
c) Auch die Überlegung, das Betreuungsgeld sei im Verbund mit
dem Kinderförderungsgesetz kompetenzrechtlich als Ausdruck
eines Gesamtkonzepts zu betrachten, vermag die Erforderlichkeit der
angegriffenen Regelungen nach Art. 72 Abs. 2 GG nicht zu
begründen.
aa) Will der Bundesgesetzgeber verschiedene Arten von Leistungen der
öffentlichen Fürsorge begründen, muss
grundsätzlich jede Fürsorgeleistung für sich
genommen den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG genügen.
Der hier zu entscheidende Fall lässt davon keine Ausnahme zu.
Die angegriffenen Regelungen genügen nicht deshalb den
Anforderungen des Art. 72 Abs. 2 GG, weil sie in solch
untrennbarem Zusammenhang mit anderen bundesrechtlich geregelten
Förderinstrumenten stünden, dass sich deren
Erforderlichkeit ausnahmsweise auf die angegriffenen Regelungen
erstreckte. Die Regelungen des Kinderförderungsgesetzes
verlören nichts von ihrer Tragfähigkeit, wenn das
Betreuungsgeld entfiele. Auf die Frage, ob die Erwähnung des
Betreuungsgeldes bereits im Kinderförderungsgesetz belegt,
dass schon dort ein Gesamtkonzept zur Förderung der Betreuung
von Kleinkindern angelegt war, kommt es deswegen nicht an. Mit dieser
Absichtserklärung des Gesetzgebers wird zwar eine
konzeptionelle Verbindung der Regelungen dokumentiert.
Maßgeblich ist aber nicht die konzeptionelle Verbindung,
sondern die objektive Untrennbarkeit der Regelungen, an der es hier
fehlt.
bb) Aus der Prärogative des Bundesgesetzgebers hinsichtlich
der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG ergibt sich kein anderes
Ergebnis. Sie bezieht sich insbesondere auf die Einschätzung
und Bewertung tatsächlicher Entwicklungen und erstreckt sich
auch auf eine Prärogative für Konzept und
Ausgestaltung von Gesetzen, was einschließt, eine Verbindung
zwischen eigenständigen Instrumenten der Fürsorge
herzustellen. Dies bedeutet jedoch keine vollständige
Freistellung von verfassungsrechtlicher Kontrolle, ob eine Regelung im
Rahmen eines regulatorischen Gesamtkonzepts des Bundesgesetzgebers
erforderlich ist. Dem Bundesgesetzgeber hier eine nicht justitiable
Verknüpfungskompetenz zu überlassen, verbietet sich
nicht zuletzt angesichts der Entstehungsgeschichte des Art. 72 Abs. 2
GG. Könnte er kraft politisch gewollter Verklammerung eine
Kompetenz begründen, hätte er die tatbestandlichen
Voraussetzungen selbst in der Hand. Dies wollte der
verfassungsändernde Gesetzgeber im Jahr 1994 durch die Reform
des Art. 72 Abs. 2 GG ausschließen.
3. Die vom Antragsteller aufgeworfene Frage, ob die angegriffenen
Vorschriften mit den Grundrechten vereinbar sind, bedarf keiner
Antwort, weil die Bestimmungen wegen der fehlenden
Gesetzgebungskompetenz nichtig sind.”